Die Schlan­ge und die Frau

…ein fast wah­res Mär­chen über Angst und deren Überwindung

Ich möch­te euch heu­te ger­ne eine Geschich­te erzäh­len. Es ist eine Art Mär­chen, wel­ches aber in sei­ner tiefs­ten Essenz wahr ist und so – oder so ähn­lich jeden Tag über­all auf der Welt geschieht.

Es war ein­mal – vor gar nicht all­zu­lan­ger Zeit – ein Mensch. Es war eine Frau, aber das tut nichts zur Sache, es war nur zufäl­lig eine Frau.
Nun, die­se Frau leb­te ihr Leben. Es war kein schlech­tes Leben, sie hat­te eine hüb­sche Woh­nung, eine net­te Kat­ze und eine meist gut gefüll­ten Kühlschrank.

Es war kein schlech­tes Leben, aber es war auch kein strah­len­des Leben. Immer wie­der mach­te sie sich auch dar­über Gedan­ken, war­um das wohl so sein möge – aber sie kam zu kei­ner Erkennt­nis, obwohl sie vie­le Bücher dazu las, vie­le Wei­se dazu befragt hat­te. Sie hat­te auch vie­le Semi­na­re und Work­shops besucht – zuletzt einen sehr viel­ver­spre­chen­den mit dem Titel:
„Das pur­pur­ne See­len­licht als Quel­le für ulti­ma­ti­ve Fül­le auf Qantenebene.”

Doch irgend­wie… tja… so lang­sam ver­lor sie auch die Hoff­nung dar­auf, dass da irgend­wann mal was anders wer­den könnte.

Die Schlan­ge und die Frau

Doch dann, eines schö­nen Tages – sie saß in ihrem Stuhl und war in Gedan­ken ver­sun­ken – schick­te ihr das Leben etwas unge­wöhn­li­ches. Sie sah – mit­ten auf der Tür­schwel­le – eine Schlan­ge lie­gen. Es war offen­bar eine gro­ße, dicke und gif­ti­ge Schlan­ge – sicher war sie sich nicht, denn es waren eigent­lich nur die Umris­se zu erken­nen. Doch je län­ger die Frau hin­blick­te, umso deut­li­cher nahm sie die Umris­se war.

Und wenn sie genau hin­hör­te, mein­te sie sogar ein lei­ses, bös­ar­ti­ges Zischeln zu hören. Die Frau erstarr­te und trau­te sich nicht, sich zu bewe­gen. Bloß kei­ne Auf­merk­sam­keit erre­gen, dann geht sie viel­leicht wie­der weg.

Nun, ihr lie­ben Kin­der und Erwach­se­nen, ihr habt es viel­leicht schon geahnt. Natür­lich lag da kei­ne Schlan­ge auf der Tür­schwel­le. Es war nur ein zusam­men­ge­dreh­ter Schal, den die Frau selbst dort hat­te fal­len las­sen. Ein recht harm­lo­ser Schal noch dazu. Er war sogar aus bio­lo­gi­scher Wol­le von glück­li­chen Scha­fen her­ge­stellt. Es war – wenn man es genau betrach­tet – der gut­mü­tigs­te und ungif­tigs­te Schal, den man sich nur vor­stel­len kann und sein ein­zi­ges Ver­ge­hen war, dass er zusam­men­ge­rollt auf der Tür­schwel­le lag.

Nun – die Frau hat­te sich nun inzwi­schen ihr Han­dy genom­men und begon­nen im Inter­net zu sur­fen. Zuerst ging sie auf Giftschlangen.de Dort erfuhr sie alles über die ver­schie­de­nen Schlan­gen und deren Angriffsverhalten.
Sie war inzwi­schen davon über­zeugt, dass es dis­count glas­ses sich bei der Schlan­ge um eine San­d­ras­se­lot­ter handelt.
Im Inter­net stand:
Die gemei­ne San­d­ras­se­lot­ter ist für mehr töd­li­che Unfäl­le ver­ant­wort­lich als alle ande­ren Gift­schlan­gen in Asi­en zusam­men. Ihre Län­ge von nur 80 cm lässt die Schlan­ge bei­na­he harm­los aus­se­hen, doch sie ist mit einem hoch­wirk­sa­men Gift und lan­gen Röh­ren­zäh­nen aus­ge­stat­tet, das sie auch ohne Grund mehr­fach hin­ter­ein­an­der in ihr Opfer jagt. Sie ist fünf mal gif­ti­ger als eine Kobra und 16 mal gif­ti­ger als eine Kettenviper.

Oh Gott.

Schnell surf­te sie wei­ter und fand auf „spi­ri­tu­el­le Workshops.com” auch gleich ein pas­sen­des Online-Semi­nar dazu. Wir wol­len sie da jetzt auch nicht wei­ter stö­ren, wäh­rend sie mit der spi­ri­tu­el­len Schlan­gen-Abwehr-Medi­ta­ti­on beginnt.

Nun – es gin­gen Stun­den und sogar Tage ins Land. Die Frau war inzwi­schen voll­kom­men erschöpft und hung­rig und durs­tig. Auch total über­mü­det, da sie vor allem Nachts so sehr Furcht hat­te, dass sie nicht schla­fen konn­te. Ein Dra­ma. So viel Furcht und Leid.

Was wäre denn der Aus­weg aus die­sem Dilem­ma? Und nicht nur aus die­sem spe­zi­el­len Dilem­ma, son­dern aus allen Dilem­mas die­ser Welt? Laut schrei­en, Augen zuhal­ten und rausrennen?
Noch län­ger sich dis­zi­pli­nie­ren und aushalten?

All das bringt kei­ne Erlö­sung auf tiefs­ter Ebene.

Und selbst, wenn jetzt jemand zur Türe hin­ein­kä­me, sich bücken wür­de und sagen würde:
„Äh, was macht denn der Schal auf dem Boden? Und was machst Du da im Sessel?”

Selbst das wür­de nicht die gan­ze Sache erlö­sen – denn bei der nächs­ten Gele­gen­heit wäre es dann halt ein ande­res Phan­tom, wel­ches die­se Frau läh­men würde:

Ein dro­hen­des Gerichts­ver­fah­ren, die böse und Män­ner­welt, die heim­tü­cki­sche Frau­en­welt, Geld, Ein­sam­keit, Beruf, der Bun­des­nach­rich­ten­dienst, Ange­la Mer­kel und die Illu­mi­na­ten. Was auch immer.

ALLES kann zur Bedro­hung wer­den, wenn ich es dazu mache.
Ver­ste­he mich nicht falsch – natür­lich gibt es rea­le Bedro­hun­gen – ich habe zum Bei­spiel mal in Thai­land eine gif­ti­ge Schlan­ge auf der Stra­ße gese­hen. Da hat mein Kör­per mit Angst reagiert. Angst ist etwas bio­lo­gisch sinn­vol­les. Furcht ent­steht aus dem fal­schen Umgang mit der Angst. So wie Leid aus dem fal­schen Umgang mit dem bio­lo­gisch sinn­vol­len Schmerz ist.

Naja – da habe ich halt ein­fach einen Bogen um die Schlan­ge gemacht und das war es.

Aber eben inter­es­san­ter­wei­se machen sich Men­schen die meis­ten Sor­gen um The­men, die nicht wirk­lich bedroh­lich sind.

Und aus genau die­ser Furcht vor sol­chen The­men, beschrän­ken sich so vie­le Men­schen in ihrer Frei­heit und Lebenskraft.

So. Was ist nun also die Auf­lö­sung die­ses Rät­sels? Wie könn­te die Frau die­ses Dilem­ma auf tiefs­ter Ebe­ne auflösen?
Na – genau so, wie es tat­säch­lich im wirk­li­chen Leben pas­siert. Wir erle­ben das in ganz beson­de­ren Momen­ten immer wie­der in unse­ren Semi­na­ren und ich ver­su­che es mal an Hand des Schlan­gen­bei­spiels aufzuzeigen.

Irgend­wann kommt die Frau an den Punkt, wo sie so rest­los erschöpft ist, dass sie nur noch drei Mög­lich­kei­ten hat:
1) Sie resi­gniert und lebt ihr Leben nur noch auf Spar­flam­me, damit ja nichts pas­siert. So tun es die aller­meis­ten Men­schen frü­her oder später.

2) Sie resi­gniert und nimmt sich das Leben, weil sie die Furcht nicht mehr aus­hält. So tun es sehr vie­le Men­schen. Sui­zid ist die häu­figs­te Todes­ur­sa­che in den west­li­chen Nationen.

3) Sie gibt sich hin und geht auf die Schlan­ge zu, um der Gefahr zu bege­ge­nen. Sie wen­det den Blick nicht ab, besteht nur noch aus Furcht und Ver­zweif­lung – doch aus irgend­ei­nem Grund ist da etwas in ihr, was stär­ker ist, als das. Es ist nur ein Mil­li­me­ter, doch dadurch geschieht das Wun­der: Sie ist nicht die Furcht, son­dern die Furcht ist in ihr. Und genau in dem Augen­blick, fällt der Schlei­er von ihren Augen und sie sieht die Welt so wie sie ist: Der Schal ist ein Schal und es war nie anders.

Und wenn sie die­sen Schritt gegan­gen ist, wird sie nie wie­der dahin­ter zurückfallen.

Casta­ne­da hat dazu mal geschrieben:
Der Mensch darf nicht fort­lau­fen. Er muss sei­ne Furcht besie­gen, er muss ihr trot­zen und den nächs­ten Schritt gehen und den nächs­ten und den nächs­ten. Er muss nur aus Furcht bestehen und das darf er nicht auf­hö­ren. Das ist die Regel! Und ein Moment wird kom­men, wo sein ers­ter Feind zurück­weicht. Der Mensch beginnt sich sei­ner selbst sicher zu sein. Sein Vor­satz wird stär­ker. Ler­nen ist nicht län­ger eine erschre­ckene Auf­ga­be. Wenn die­ser glück­li­che Moment gekom­men ist, kann der Mensch, ohne zögern sagen, dass er sei­nen ers­ten natür­li­chen Feind besiegt hat. Dies geschieht all­mäh­lich, doch wird die Furcht plötz­lich und schnell über­wun­den. Und ein Mensch, der ein­mal die Furcht über­wun­den hat ist für den Rest sei­nes Lebens frei von ihr, weil er anstatt der Furcht Klar­heit gewon­nen hat – eine Klar­heit der Gedan­ken, die die Furcht aus­löscht. Aber dann kennt ein Mensch sei­ne Wün­sche: er weiß sie zu befrie­di­gen. Er kann die neu­en Schrit­te des Lebens vor­aus­se­hen, und alles ist von deut­li­cher Klar­heit umge­ben. Der Mensch fühlt, dass nichts ver­bor­gen ist.

Wie Du siehst: Es ist eine Art Mär­chen, wel­ches ich Dir hier erzählt habe. Doch ist es in sei­ner tiefs­ten Essenz wahr und geschieht so – oder so ähn­lich jeden Tag über­all auf der Welt.

Bei Dir auch?

Alles Lie­be,
Dirk Liesenfeld.

1 Kommentar zu „Die Schlan­ge“

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