Was ist Ärger und was bewirkt er im Leben?

Ich bekam ges­tern eine Email. Mit fol­gen­dem Inhalt:
„Sor­ry Dirk, aber dein Spruch zum Nach­füh­len heu­te macht mich ernst­haft böse. Es ist ein selbst­ver­leug­ne­ri­scher dum­mer unlo­gi­scher Spruch, der Beschei­den­heit gebie­tet. Geh doch bit­te mal selbst zum See­len­klemp­ner und ver­scho­ne die Welt mit dei­nem – in mei­nen Augen – geis­ti­gen Dünnschiss.”

Wow. Da ist jemand ärger­lich auf mich. Und zwar sehr.
Ich habe dann mal nach­ge­se­hen, wel­cher „Spruch zum Nach­füh­len” an die­sem Tag über­haupt auf der Web­site stand. Es war folgender:

„Men­schen­le­ben sind kost­bar – das der ande­ren noch mehr als unser eigenes.”

Ein paar harm­lo­se Wor­te – weder poli­ti­scher Natur, noch ras­sis­tisch und auch nicht Frau­en­dis­kri­mi­nie­rend. (Es war näm­lich eine Frau, die mir die Email geschrie­ben hat.)

Ich konn­te nicht ver­ste­hen, war­um die­se Frau so ärger­lich wur­de. Ich konn­te es nicht ver­ste­hen, bis zu dem Punkt, an dem ich mich selbst dabei beob­ach­tet habe, dass ich am Com­pu­ter sit­ze und ihr eine „ange­mes­se­ne” Email zurück schrei­ben woll­te. Etwas in der Art von „sel­ber See­len­klemp­ner” und so wei­ter. Da habe ich es dann verstanden.
Ich war näm­lich selbst ärger­lich. Ich war ärger­lich über ein paar harm­lo­se Wor­te, die ver­schlüs­selt als Bits und Bytes als Email bei mir ankamen.

Ich habe dann davon erst ein­mal Abstand genom­men, aus mei­nem Ärger her­aus der Frau einen vor den Latz zu knal­len. Ich habe eine Wei­le gewar­tet und nach weni­gen Momen­ten war mein Ärger auch schon abge­klun­gen und mach­te einem ganz ande­ren Gefühl Platz: Dem Mitgefühl.

Ärger – Was ist Ärger und was bewirkt er im Leben?

Men­schen sind stän­dig ärger­lich mit­ein­an­der. Da reicht oft schon – wie im obi­gen Bei­spiel – der kleins­te Aus­lö­ser. Meist ver­steht das Gegen­über dann über­haupt nicht den Grund für den Ärger und wird dann selbst ärger­lich. Das brei­tet sich dann immer wei­ter aus, wie ein Buschfeuer.
Und das kann man sehr gut auf der Welt und im eige­nen Leben beobachten.
„War­um fährt der Idi­ot so dicht auf?”
„Muss die­ser Depp mich denn jetzt anrempeln?”
„Boah, die Tus­si nervt – kann die denn nicht woan­ders rauchen?”

Die Welt ist voll davon – es scheint, als wür­den sich die Men­schen über­wie­gend auf die Ner­ven gehen. Und dabei gibt es nichts über­flüs­si­ge­res als den Ärger. Stel­le Dir mal vor, dass Du Piz­za bestellst und der Kell­ner lie­fert Dir – nach 90 Minu­ten War­te­zeit – Hähn­chen. Ja, das ist blöd, vor allem, wenn Du viel­leicht sogar Vege­ta­ri­er bist. Aber, mal ganz genau hin­ge­se­hen. Wenn Du jetzt ärger­lich wirst, laut pol­ternd den Laden ver­lässt oder her­um­ze­terst und sogar den Kell­ner beschimpfst… wird dadurch irgend­et­was bes­ser? Ver­wan­delt sich dadurch Dein Hähn­chen in eine Piz­za? Wird dadurch Dein Hun­ger weni­ger? Mehrt das die Lie­be in der Welt? Nein, im Gegen­teil. Es macht alles noch schlim­mer. Dein rest­li­cher Tag ist ver­saut, eben­so der des Kell­ners und viel­leicht sogar noch der von eini­gen wei­te­ren Gäs­te im Restaurant.

Was also tun? Ja und Amen sagen und den gebra­te­nen Hüh­ner-Kada­ver mampfen?
Nein. Natür­lich nicht. Natür­lich wer­de ich es dem Kell­ner sagen, aber eben jen­seits von Ärger.
„Ach Mensch, ich habe jetzt so lan­ge gewar­tet und jetzt brin­gen Sie mir die fal­sche Bestel­lung. Ist wohl gra­de viel los in der Küche? Kön­nen Sie mir inner­halb der nächs­ten 10 Minu­ten eine Piz­za brin­gen, ansons­ten gehe ich lie­ber rüber zur Imbiss­bu­de und hole mir ein paar Pom­mes – ich habe näm­lich echt Hunger.”
Ganz ohne Ärger, ganz ohne emo­tio­na­le Erpres­sung. Ein­fach nur eine Mit­tei­lung mei­ner Bedürfnisse.

Und das ist die Kunst.
Ärger ver­schwin­det dadurch, dass man ein paar Momen­te dem inne­ren Druck stand­hält. Nicht direkt raus­platzt damit. Das berühm­te „Drei­mal tief durch­at­men”. Und dann schaut, was mich EIGENTLICH so wütend macht. Im Restau­rant-Bei­spiel ist es ja der Hun­ger in Ver­bin­dung damit, dass ich mich über­gan­gen füh­le. Wenn das in mir Mord­ge­lüs­te aus­löst, dann geht die gan­ze Sache weit über den unacht­sa­men Kell­ner hin­aus. Dann steckt da was Tie­fe­res hin­ter. Der Kell­ner ist dann maxi­mal noch der Aus­lö­ser, aber kei­nes­falls die Ursache.

Ich hat­te mal mit dem Freund einer Freun­din ein Gespräch über Sui­zid und im Ver­lauf des Gesprä­ches sag­te ich: „Naja, und wenn ein Mensch sich umbringt, dann ist es immer ein Ver­lust. Aber ich kann das den­noch respek­tie­ren als die letz­te Ent­schei­dung die­ses Menschen.”
Da wur­de der Freund der Freun­din rich­tig böse und hat mich aus sei­ner Woh­nung gewor­fen. Erst spä­ter habe ich erfah­ren, dass er selbst meh­re­re Sui­zid­ver­su­che hin­ter sich hat­te und die des­we­gen fehl­ge­schla­gen waren, weil er eigent­lich wahn­sin­ni­ge Angst vor dem Tod hat. Nicht mei­ne Aus­sa­ge hat ihn also erzürnt, son­dern das, wor­an sie ihn erin­nert hat.

Ich wünsch­te die Men­schen wür­den lie­be­vol­ler mit­ein­an­der umge­hen, wür­den nicht stän­dig vol­ler Ärger auf­ein­an­der ein­prü­geln. Die Welt wäre für alle Men­schen ein bes­se­rer Ort. Aber das nützt nichts, wenn ich mir das wün­sche. Es nützt auch nichts, wenn ich ver­su­che ande­re dies­be­züg­lich zu missionieren.
Aber ich kann ler­nen mit mei­nem Ärger umzu­ge­hen, so dass er sich in Mit­ge­fühl und Lie­be ver­wan­delt. Und damit bin ich dann ein Bei­trag für die Lie­be in der Welt und – qua­si als Bonus – wer­de ich erfah­ren wie dadurch auch mein eige­nes Leben reich­hal­ti­ger und far­ben­präch­ti­ger wird.

Und DAS begrei­fe ich als eine der wich­tigs­ten Aus­sa­gen von Tan­tra und Selbsterkenntnis.
Und so lan­den wir wie­der dort, wo wir begon­nen haben.

„Men­schen­le­ben sind kost­bar – das der ande­ren noch mehr als unser eigenes.”

Ver­stehst Du, wie ich das meine?
Am Ende des Lebens – wenn der Sen­sen­mann schon fröh­lich lächelnd vor uns steht – wird ein jeder begrei­fen, dass nicht das eige­ne Leben das wich­ti­ge war. Son­dern das, was wir damit ange­fan­gen haben. Und das ein­zi­ge, was wirk­lich von Bedeu­tung dabei ist, ist das, was wir im Leben ande­rer Wesen bewirkt haben.

Und wofür nutzt Du der­zeit Dei­ne Lebenszeit?

Alles Lie­be,
Dirk Liesenfeld.

3 Kommentare zu „Ärger“

  1. Ah, da ist sie wie­der: die Synchronizität.

    Ich habe ein ande­res Werk­zeug, um zur Selbst­er­kennt­nis zu gelan­gen, die­ses hat mit Schrei­ben zu tun. Aber die Vor­ge­hens­wei­se ist in etwa wie dei­ne: wenn ich mich wegen etwas oder über jeman­den ärge­re, unter­su­che ich die­sen Ärger mit einer Rei­he von Fra­gen, es sind immer die sel­ben Fra­gen („The work” von Byron Katie). Das Tolls­te für mich ist: ich weiß nie, was am Ende raus­kommt. Am Ende geht es immer um eine Umkeh­rung – die­se Umkeh­rung kann man nicht mit dem Ver­stand von vorn­her­ein erfas­sen. Jeden­falls nicht in allen Fäl­len. Manch­mal, aus Erfah­rung, gelingt es mir auch schon, wenn ich nicht „the work” mache (schrift­lich). Das Ergeb­nis ist immer eine Hand­lungs­op­ti­on für mich. Der Ärger hat sich auf­ge­löst und hat Platz gemacht für ein kon­struk­ti­ves Ver­hal­ten mei­ner­seits. Und es ist immer so: wenn man sich ärgert, hat das aus­schließ­lich mit einem selbst zu tun.

    Ein Bei­spiel:
    Letz­tens habe ich mich geär­gert über eine Per­son, mit der ich zusam­men arbeite. 

    Die­sen Ärger habe ich zu Hau­se mit „the work” bear­bei­tet. Dabei kam her­aus, dass ich mich in mei­nem Stolz ver­letzt fühl­te und das ich dach­te, die Per­son schätzt mei­ne Arbeit nicht wert. Das habe ich also bear­bei­tet (unge­fähr eine Stun­de „Arbeit”) und am Ende kam Fol­gen­des heraus:

    Sie hat mich nicht in mei­nem Stolz ver­letzt. Sie schätzt mei­ne Arbeit wert.

    Sie hat mich nicht in mei­nem Stolz ver­letzt, weil mein Stolz in die­ser Ange­le­gen­heit eine klei­ne Lego-Trutz­burg ist, nicht mehr und nicht weni­ger. Sie hat mei­ne klei­ne Lego­burg umge­sto­ßen und ich bin belei­dig­te Leber­wurst. Ich bin aber erwach­sen und kann dar­über lachen, weil es kei­ne wei­te­re Bedeu­tung hat. Ich neh­me es leicht. Ich bin glück­lich – über die­se Erkennt­nis und mit mir. Es hat gar kei­ne Bedeu­tung, zumin­dest nicht so eine hohe, wie ich dem bei­gemes­sen habe: sowohl mei­ner Arbeit als auch über­haupt. Ich hel­fe mit mei­ner Arbeit nicht ande­ren Men­schen. Ich mache das, weil es mir Spaß macht. Per­spek­ti­visch soll­te ich lie­ber dar­über nach­den­ken, wie ich mei­ne Fähig­kei­ten so ein­brin­gen könn­te, dass sie sinn­stif­tend sind. Das ich etwas Gutes tue für ande­re. Und damit auch für mich. Ich möch­te Freu­de in die Welt brin­gen. Ich möch­te, dass die Men­schen gern mit mir zusam­men sind, weil sie sich von mir beschenkt füh­len. Ich möch­te, dass die Men­schen lachen, wenn sie mit mir zusam­men sind. Ich möch­te, dass die Men­schen wenigs­tens für einen Moment ihre Pro­ble­me leicht neh­men kön­nen oder sie ver­ges­sen. Ich möch­te den Men­schen etwas schen­ken. Frie­den und Freu­de. Ja, das möch­te ich. Ich möch­te Frie­den und Freu­de schenken. 

    In dem Sinn: vie­len Dank für die Anre­gung, Dirk. Dir einen schö­nen Tag!
    Jacqueline

    1. Lie­be Jacqueline,

      vie­le Wege füh­ren nach Rom und in die­sem Sin­ne gibt es vie­le Mög­lich­kei­ten, um den Ärger zu über­win­den. Ich freue mich, dass Du eine gefun­den hast, die für Dich funktioniert.
      Mein Rat­schlag ist jedoch, dass Du Dich damit (noch) nicht zufrie­den gibst. Jede „Metho­de” ist immer eine Art Krü­cke und bei „the work”, aber auch bei ande­ren Metho­den ist immer das Pro­blem, dass es nicht in dem Moment wirkt, wo der Ärger ent­steht. Es ist, als ob man war­tet, bis wie­der Unkraut gewach­sen ist und DANN erst mit der Sen­se drü­ber geht. Das Unkraut wird immer wie­der erneut wachsen.
      Wenn es gelingt, die Wur­zel zu fin­den – nicht nur die Wur­zel für ein bestimm­tes Kraut, son­dern die „Wur­zel ALLEN Übels”, dann löst sich das gan­ze auf tiefs­ter Ebe­ne auf. For­sche wei­ter – rufe ich Dir zu 

      Alles Lie­be,
      Dirk.

  2. Ja, natür­lich! Ich sehe das auch so, dass ich in einem Pro­zess bin. Jah­re­lan­ge Prä­gung lässt sich nicht von heut auf mor­gen abwer­fen oder umwan­deln – höchs­tens mit Gewalt oder Mani­pu­la­ti­on von außen. Ich bin noch nicht gänz­lich befreit von mei­nen „üblen Wur­zeln”, aber ich kann auf jeden Fall sagen, dass ich schon weit gekom­men bin. Und ja, ich for­sche wei­ter – es ist großartig! 

    Mer­ci

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